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Israel Shahak
Jüdische Geschichte, jüdische Religion
Die Last von dreitausend Jahren


Die Struktur des Talmuds

Man muß also klar erkennen, daß die Quelle der Autorität für alle Anwendungen im klassischen (und dem heutigen orthodoxen) Judaismus, die maßgebende Grundlage fur ihre gesetzliche Struktur, der Talmud ist, oder, um genauer zu sein. der sog. Babylonische Talmud; die übrige Talmudliteratur (einschließlich des sog. Jerusalemer oder Palästinensischen Talmuds) stellt eine ergänzende Autorität dar.

Ich kann hier nicht auf eine nähere Beschreibung des Talmuds und der Talmudliteratur eingehen, sondern ich muß mich darauf beschränken, einige Hauptpunkte anzugeben, die für meine Überlegungen benötigt werden. Der Talmud besteht aus zwei Teilen. Mishnah, der erste Teil, ist ein kurzgefaßter hebräisch geschriebener Gesetzestext, verteilt auf sechs Bände, deren jeder aus mehreren Traktaten besteht. Diese Traktate wurden um 200 n.Chr.auf Basis des sehr viel umfassenderen (und hauptsächlich mündlich überlieferten) Gesetzmaterials, das während der zwei vorangegangenen Jahrhunderten zusammengestellt worden war, redigiert. Gemarah, der zweite und bei weitem überwiegende Teil, ist eine umfangreiche Aufzeichnung von Diskussionen um und über Mishnah. Es gibt zwei, annähernd parallele Fassungen der Gemarah. Die eine wurde um 200 bis 500 n.Chr.in Mesopotamien („Babylon“) geschrieben, die andere in Palästina um etwa 200 bis zu einem unbekanntem Zeitpunkt weit vor 500 n.Chr. Der babylonische Talmud (d.h.Mishnah samt babylonischer Gemarah) ist sehr viel umfassender und besser geordnet als der palästinensische und wird allein als endgül-

(S.98) tig und maßgebend betrachtet. Der jerusalemer (palästinensische) Talmud hat als juristische Autorität eine entschieden niedrigere Stellung, und das gleiche kann man von einigen Sammelwerken sagen, die unter der gemeinsamen Bezeichnung „Talmudliteratur“ bekannt sind und Material enthalten, das die Herausgeber der beiden Talmuds weggelassen haben.

Im Gegensatz zu Mishnah ist der übrige Talmud und die Talmudliteratur in einer Mischung aus Hebräisch und Aramäisch geschrieben, wobei im babylonischen Talmud das Aramäische vorherrscht Er ist auch nicht begrenzt auf Fragen der Gesetzgebung. Ohne jede offensichtliche Ordnung oder Ursache kann die juristische Diskussion plötzlich abgebrochen werden von einer Art „Erzählung“ (Aggadah), eine bunte Mischung aus Geschichten und Anekdoten über Rabbiner oder gewöhnliches Volk, biblische Gestalten, Engel, Dämonen, Hexerei und Wunderwerk. Obwohl diese erzählenden Abschnitte im Judentum im Laufe der Zeit einen großen völkischen Einfluß hatten, wurden sie (auch vom Talmud selbst) immer als von geringerer Bedeutung angesehen. Von größter Bedeutung für das klassische Judentum sind die juristischen Abschnitte im Text, besonders die Diskussion von Fällen, die als problematisch angesehen werden können. Der Talmud selbst teilt die Juden in verschiedene Kategorien in folgender steigender Rangordnung ein: die unterste Klasse sind die völlig Ungebildeten, danach kommen die, die nur die Bibel kennen, danach die in Mishnah und Aggadah bewanderten, und schließlich die höchste Klasse, die sich in die Schriften vertieft haben und den juristischen Teil der Gemarah diskutieren können. Es ist nur diese letzte

(S.99) Gruppe, die geeignet ist, ihre Mitjuden in allen Dingen zu führen.

Das Gesetzsystem kann als allumfassend beschrieben werden, streng autoritativ und dennoch zu unbegrenzter Weiterentwicklung geeignet, jedoch ohne jedwede Veränderung in seinem dogmatischen Grund. Dieses System deckt gewöhnlich bis in beachtliche Einzelheiten alle Seiten des jüdischen Lebens, sowohl das einzelne als auch das gemeinsame, mit Zwangsmaßnahmen und Strafen für jede erdenkliche Sünde oder jeden Verstoß gegen die Regeln. Die Grundregeln für jedes Problem sind, dogmatisch festgelegt und können nicht in Frage gestellt werden. Was dagegen diskutiert werden kann und was auch sehr ausführlich getan wird, ist, wie diese Regeln praktisch definiert und angewendet werden sollen. Lassen sie mich einige Beispiele geben:

Am Sabbat „keine wie immer geartete Arbeit ausführen“. Die Definition des Begriffs Arbeit umfaßt genau 39 Arten von Arbeit, nicht mehr und nicht weniger. Die Bedingung, um in diese Liste

aufgenommen zu werden, hat nichts mit dem Schwierigkeitsgrad einer gegebenen Aufgabe zu tun, es ist ganz einfach eine Frage der dogmatischen Definition. Eine verbotene Art von „Arbeit“ ist das Schreiben. Da entsteht die Frage: Wieviel Buchstaben muß ich am Sabbat schreiben, um die Sünde des Schreibens am Sabbat zu begehen? (Antwort: Zwei.) Ist die Sünde gleich schwer, ohne Rücksicht darauf mit welcher Hand geschrieben wurde? (Antwort: Nein.) Um sich jedoch zu schützen, eine Sünde zu begehen, ist das Grundgebot gegen das Schreiben eingegrenzt mit einem zweiten

(S.100)  Gebot, nämlich das Verbot jegliches Schreibgerät am Sabbat zu berühren.

Eine andere Hauptart von Arbeit, die am Sabbat verboten ist, ist, Getreide zu mahlen. Davon leitete man in einem Analogieschluß ab, daß jegliche Mahltätigkeit verboten ist. Und dies wiederum wurde mit einem Verbot abgesichert, ärztliche Tätigkeit am Sabbat auszuüben (außer in jenen Fällen, wo jüdisches Leben in Gefahr ist), um sich vor der Gefahr zu schützen, eine Sünde zu begehen, falls man ein Medikament mahlen müßte. Es ist müßig darauf hinzuweisen, daß heutzutage ein solches Risiko überhaupt nicht besteht (oder auch kaum zu jener Zeit, als der Talmud entstand), denn — als Schutz des Schutzes — verbietet der Talmud ausdrücklich, flüssige Medizinen oder stärkende Getränke am Sabbat einzunehmen. Festgesetzt ist festgesetzt, wie absurd es auch sein mag. Tertullianus, einer der frühesten Kirchenväter, schrieb: „Ich glaube es, weil es absurd ist.“ Dies könnte als Motto für die meisten Regeln des Talmud stehen, wobei man gleichzeitig das Wort „glauben“ mit „ausüben“ ersetzt.

Das folgende Beispiel beleuchtet noch besser, welchen Grad an Absurdität dieses System erreicht hat. Eine der typischsten Arbeitsarten, die am Samstag verboten sind, ist die Erntearbeit. Dies wird — in Analogie — auf das Verbot, einen Zweig von einem Baum abzubrechen, erweitert. Demnach ist es verboten, auf einem Pferd (oder jedem anderen Tier) zu reiten, zum Schutz gegen die Versuchung, einen Zweig abzubrechen und diesen als Reitgerte zu verwenden. Es ist sinnlos, einzuwenden, daß man bereits eine fertige Reitgerte besitzt oder dort zu reiten gedenkt, wo es

(S.101)  gar keine Bäume gibt. Verboten ist verboten — für immer. Dies kann jedoch erweitert und strenger gemacht werden: in moderner Zeit hat man Radfahren am Sabbat verboten da es eine Analogie zum Reiten darstellt.

Mein letztes Beispiel beleuchtet, wie die gleichen Methoden auch in rein theoretischen Fällen angewendet werden, die überhaupt keine denkbare praktische Anwendung haben. Solange es den Tempel gab, durfte der Hohepriester nur eine Jungfrau heiraten. Obwohl praktisch während der ganzen talmudischen Periode kein Tempel oder Hohepriester mehr existierte, widmet der Talmud eine seiner verwickeltsten (und bizarren) Diskussionen der exakten Definition des Wortes „Jungfrau“, einer, die geeignet ist, einen Hohepriester zu heiraten. Was gilt für eine Frau, deren Hymen durch einen Unglücksfall beschädigt wurde? Macht es einen Unterschied, wenn dieser Fall vor oder nach einem Alter von drei Jahren eintraf? Durch Eindringen von Metall oder Holz? Kletterte sie auf einen Baum? Falls ja, kletterte sie hinauf oder herunter? Geschah es natürlich oder unnatürlich? All dies und viel anderes wird in langatmigen Einzelheiten diskutiert. Und im klassischen Judaismus mußte jeder Gelehrte Hunderte solcher Probleme beherrschen. Große Gelehrte wurden nach ihrer Fähigkeit, diese Probleme weiterzuentwickeln, gemessen, denn, wie die Beispiele zeigen, gibt es immer eine Möglichkeit zu weiterer Entwicklung — wenn auch nur in eine Richtung — und solche Entwicklungen setzen sich tatsächlich seit der letzten Redaktion des Talmud fort.

Es gibt jedoch zwei wichtige Unterschiede zwischen der talmudischen Periode (endend um 500 n.Chr,) und der

(S.102)  Periode des klassischen Judaismus (ab etwa 800 n.Chr.). Das im Talmud bezogene geographische Gebiet ist begrenzt, während die dort wiedergegebene jüdische Gemeinschaft eine „vollständige“ Gesellschaft vorstellt, mit jüdischer Landwirtschaft als Grundlage. (Dies gilt sowohl für Mesopotamien als auch für Palästina.) Obwohl zu jener Zeit viele Juden im ganzen römischen und an vielen Plätzen im sassanidischen Reich lebten, geht aus den talmudischen Texten ganz offensichtlich hervor, daß deren Niederschrift, die über ein halbes Jahrtausend währte, eine streng lokale Angelegenheit war. Keine anderen Gelehrten als jene aus Mesopotamien und Palästina nahmen daran teil, ebensowenig spiegelt der Text soziale Verhältnisse außerhalb dieser beiden Gebiete wieder.

Man weiß sehr wenig über die sozialen und religiösen Bedingungen unter denen die Juden

während der drei zwischenliegenden Jahrhunderte lebten. Aber ab 800, als ausführlichere geschichtliche Informationen wieder verfügbar wurden, finden wir, daß die oben erwähnten beiden Bedingungen vertauscht worden waren. Der babylonische Talmud (und in viel geringerem Ausmaß die übrige Talmudliteratur) ist nun als autoritativ anerkannt und wird in allen jüdischen Gemeinden studiert und entwickelt. Gleichzeitig hat die jüdische Gesellschaft insgesamt eine tiefe Veränderung durchlaufen: was und wo auch immer es sein mag — es gibt keine Bauern mehr.

Das infolge dieser Wandlung entstandene Gesellschaftssystem diskutieren wir in Kapitel 4. Hier werden wir beschreiben, wie der Talmud an die Verhältnisse des klassischen Judaismus angepaßt wurde — geographisch

(S.103) sehr erweitert und sozial viel enger, und in jeder Beziehung radikal verändert. Wir werden uns auf das konzentrieren, was meiner Meinung nach die wichtigste Methode der Anpassung ist, nämlich die Dispensen.



Die Dispensen

S. 104: Das System des Talmud ist, wie gesagt, sehr dogmatisch und erlaubt keinerlei Lockerung der Regeln, nicht einmal dort, wo diese durch veränderte Umstände zur Absurdität werden. Und im Gegensatz zur Bibel ist im Talmud der buchstäbliche Sinn der Texte bindend und es ist nicht erlaubt, ihn wegzudeuten. Aber im Zeitalter des klassischen Judaismus wurden viele Talmudgesetze für die herrschenden Klassen unter den Juden — die Rabbiner und die Reichen — unhaltbar. Im Interesse dieser herrschenden Klassen dachte man sich ein System für den systematischen Betrug aus, den Buchstaben der Gesetze zu gehorchen, jedoch deren Sinn und Absicht zu übertreten. Dieses heuchlerische System von „Dispensen“ (heterim) war nach meiner Auffassung die wichtigste Ursache zum Verfall des Judentums unter seiner klassischen Epoche. (Die nächstwichtigste Ursache war die jüdische Mystik, die jedoch unter einem viel kürzeren Zeitraum wirkte.) Und wieder benötigen wir einige Beispiele, um zu zeigen, wie das System funktioniert.

1. Zinsen zu nehmen. Der Talmud verbietet einem Juden ausdrücklich und bei strenger Strafe Zinsen für ein Darlehen zu nehmen, das er einem anderen Juden gegeben hat. (Laut einer Majorität von Talmudautoritäten ist es eine religiöse Pflicht, höchstmögliche Zinsen für ein Darlehen zu nehmen, das man einem Nichtjuden gegeben hat.) Sehr ausführliche Regeln verbieten auch die weitest an den Haaren herbeigeholten Methoden, mit denen ein jüdischer Ausleiher sich Vorteile aus sei-

(S. 105) nem Kredit an einen jüdischen Schuldner holen könnte. Alle jüdischen Mitbeteiligten an einer derartigen ungesetzlichen Transaktion, einschließlich Schreiber und Zeugen, werden vom Talmud als ehrenrührig und bei Gericht mißbilligte Zeugen abgestempelt, da ein Jude durch Teilnahme an einem derartigen Akt de facto erklärt, daß er „nicht Teil hat an Israels Gott“. Es ist offensichtlich, daß ein derartiges Gesetz für die Bedürfnisse jüdischer Kleinbauern oder Handwerker gut geeignet ist, oder für kleine jüdische Gemeinden, die ihr Geld benutzen, um es an Nichtjuden zu verleihen. Aber im 16.Jh. war die Situation in Osteuropa (vor allem in Polen) ganz anders. Dort gab es ziemlich große jüdische Gemeinden, die in manchen Städten die Mehrheit bildeten. Die einer nahe an Sklaverei grenzenden harten Leibeigenschaft unterworfenen Bauern waren kaum imstande, überhaupt Geld zu leihen, während der Geldverleih an den Adel von einigen wenigen sehr reichen Juden gehandhabt wurde. Viele Juden tätigten Geschäfte miteinander. — Unter diesen Umständen dachte man sich folgendes Arrangement (heter'isqa- Geschäftsdispens) für einen verzinslichen Kredit zwischen Juden aus, das nicht gegen die Buchstaben des Gesetzes verstößt, da es formell gar kein Darlehen darstellt. Der Gläubiger investiert sein Geld in das Geschäft des Schuldners, wobei er zwei Bedingungen stellt. Erstens muß der Schuldner an einem im voraus festgesetzten Tag eine bestimmte Summe Geldes (in der Praxis die Zinsen für den Kredit) dem Gläubiger als dessen „Anteil am Gewinn“ zahlen, zweitens wird voraus-

(S. 106) gesetzt, daß der Schuldner hinreichend Gewinn gemacht hat, um dem Gläubiger seinen Anteil zurückzugeben, falls nicht das Gegenteil durch Zeugenaussagen des Rabbiners der Stadt oder des rabbinischen Richters usw. bestätigt wird, der übereinkommensgemäß sich weigert, derartige

Fälle zu bezeugen. In der Praxis ist es nur erforderlich, daß man den Text dieser Dispens, die auf Aramäisch geschrieben und völlig unverständlich allermeisten ist, an der Wand des Raumes, in dem die Transaktion durchgeführt wird, anschlägt (eine Kopie die ses Textes ist in jedem Bankkontor in Israel angeschlagen) oder auch nur in einer Kiste verwahrt — und der verzinsliche Kredit von einem Juden an einen anderen wird völlig legal und einwandfrei.


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