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              Engels: Über den Antisemitismus 
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             05.01.2020  | 
          
Friedrich Engels
Über den Antisemitismus
(Aus einem Brief nach Wien) (1890)
        Karl Marx u. Friedrich 
        Engels, Werke, Bd.22, 1963, Berlin/DDR, S.49-51.
        
Dieser Text wurde von der ausgezeichneten Seite Klassiker des Marxismus-Leninismus kopiert, die Ende Juni 2000 plötzlich verschwunden ist.
An dieser Stelle findet man jetzt die ebenso ausgezeichneten Seite, Stimmen der proletarischen Revolution.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
        [Arbeiter-Zeitung Nr.19 vom 
        9. Mai 1890]
        
        ... Ob Sie aber mit dem 
        Antisemitismus nicht mehr Unglück als Gutes anrichten werden, muß ich 
        Ihnen zu bedenken geben. Der Antisemitismus ist das Merkzeichen einer 
        zurückgebliebenen Kultur und findet sich deshalb auch nur in Preußen und 
        Österreich resp. Rußland. Wenn man hier in England oder in Amerika 
        Antisemitismus treiben wollte, so würde man einfach ausgelacht, und Herr 
        Drumont erregt in Paris mit seinen Schriften – die an Geist denen der 
        deutschen Antisemiten unendlich überlegen sind – doch nur ein bißchen 
        wirkungslose Eintagssensation. Zudem muß er ja jetzt, da er als 
        Stadtratskandidat auftritt, selbst sagen, er sei gegen das christliche 
        Kapital ebensosehr wie gegen das jüdische! Und Herrn Drumont würde man 
        lesen, wenn er auch die gegenteilige Meinung verträte.
        
        Es ist in Preußen der 
        Kleinadel, das Junkertum, das 10.000 Mark einnimmt und 20.000 Mark 
        ausgibt und daher den Wucherern verfällt, das in Antisemitismus macht, 
        und in Preußen und Österreich ist es der dem Untergang durch die 
        großkapitalistische Konkurrenz verfallene Kleinbürger, Zunfthandwerker 
        und Kleinkrämer, der den Chor dabei bildet und mitschreit. Wenn aber das 
        Kapital diese Klassen der Gesellschaft vernichtet, die durch und durch 
        reaktionär sind, so tut es, was seines Amtes ist, und tut ein gutes 
        Werk, einerlei, ob es nun semitisch oder arisch, beschnitten oder 
        getauft ist; es hilft den zurückgebliebenen Preußen und Österreichern 
        vorwärts, daß sie endlich auf den modernen Standpunkt kommen, wo alle 
        alten gesellschaftlichen Unterschiede aufgehen in den einen großen 
        Gegensatz von Kapitalisten und Lohnarbeitern. Nur da, wo dies noch nicht 
        der Fall, wo noch keine starke Kapitalistenklasse existiert, also auch 
        noch keine starke Lohnarbeiterklasse, wo das Kapital noch zu schwach 
        ist, sich der gesamten nationalen Produktion zu bemächtigen, und daher 
        die Effektenbörse zum Hauptschauplatz seiner Tätigkeit hat, wo also die 
        Produktion noch in den Händen von Bauern, Gutsherren, Handwerkern und 
        ähnlichen aus dem Mittelalter überkommenen Klassen sich befindet – nur 
        da ist das Kapital vorzugsweise jüdisch, und nur da gibt's 
        Antisemitismus.
        
        In ganz Nordamerika, wo es 
        Millionäre gibt, deren Reichtum sich in unseren lumpigen Mark, Gulden 
        oder Franken kaum ausdrücken läßt, ist unter diesen Millionären nicht 
        ein einziger Jude, und die Rothschilds sind wahre Bettler gegen diese 
        Amerikaner. Und selbst hier in England ist Rothschild ein Mann von 
        bescheidenen Mitteln z.B. gegenüber dem Herzog von Westminster. Selbst 
        bei uns am Rhein, die wir mit Hilfe der Franzosen den Adel vor 95 Jahren 
        zum Land hinausgejagt und uns eine moderne Industrie geschaffen haben, 
        wo sind da die Juden?
        
        Der Antisemitismus ist also 
        nichts anderes als eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender 
        Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft, die wesentlich 
        aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht, und dient daher nur 
        reaktionären Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deckmantel; er ist 
        eine Abart des feudalen Sozialismus, und damit können wir nichts zu 
        schaffen haben. Ist er in einem Lande möglich, so ist das ein Beweis, 
        daß dort noch nicht genug Kapital existiert. Kapital und Lohnarbeit sind 
        heute untrennbar. Je stärker das Kapital, desto stärker auch die 
        Lohnarbeiterklasse, desto näher also das Ende der 
        Kapitalistenherrschaft. Uns Deutschen, wozu ich auch die Wiener rechne, 
        wünsche ich also recht flotte Entwicklung der kapitalistischen 
        Wirtschaft, keineswegs deren Versumpfen im Stillstand.
        
        Dazu kommt, daß der 
        Antisemitismus die ganze Sachlage verfälscht. Er kennt nicht einmal die 
        Juden, die er niederschreit. Sonst würde er wissen, daß hier in England 
        und in Amerika, dank den osteuropäischen Antisemiten, und in der Türkei, 
        dank der spanischen Inquisition, es Tausende und aber Tausende jüdischer 
        Proletarier gibt; und zwar sind diese jüdischen Arbeiter die am 
        schlimmsten ausgebeuteten und die allerelendesten. Wir haben hier in 
        England in den letzten zwölf Monaten drei Streiks jüdischer Arbeiter 
        gehabt, und da sollen wir Antisemitismus treiben als Kampf gegen das 
        Kapital?
        
        Außerdem verdanken wir den 
        Juden viel zuviel. Von Heine und Börne zu schweigen, war Marx von 
        stockjüdischem Blut; Lassalle war Jude. Viele unserer besten Leute sind 
        Juden. Mein Freund Victor Adler, der jetzt seine Hingebung für die Sache 
        des Proletariats im Gefängnis in Wien abbüßt, Eduard Bernstein, der 
        Redakteur des Londoner Sozialdemokrat, Paul Singer, einer unserer besten 
        Reichstagsmänner – Leute, auf deren Freundschaft ich stolz bin, und 
        alles Juden! Bin ich doch selbst von der „Gartenlaube“ zum Juden gemacht 
        worden, und allerdings, wenn ich wählen müßte, dann lieber Jude als 
        „Herr von“!
        
London, 19. April 1890
        Friedrich Engels
        Quelle:
        
        www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1890/04/19-ansem.htm
        
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| Zuletzt aktualisiert am 12.10.2003 | Adresse: geheimpolitik.de |